Ärztemangel? – Medizinische Versorgung im Wandel

Von Sabine von Merzljak
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Schaut man sich die Ärzte-Statistik oder Studien wie WIdO-Atlas an, so hat Deutschland rein rechnerisch zu viele Ärzte. Tatsächlich sind aber einige Regionen trotzdem unterversorgt. Offensichtlich wird dies vor allem in den ländlichen Regionen.
Hier wird der Ärztemangel für die Patienten am schnellsten sichtbar. Aber ganz so einfach ist es mit der ärztlichen Unterversorgung nicht. Denn viele einzelne Faktoren tragen zu dieser Entwicklung bei.

Unterversorgung: Alles eine Frage der Demografie?

Sicherlich ist einer der Haupteinflussfaktoren im demografischen Wandel zu sehen: 
Eine immer älter werdende Bevölkerung erfährt einen immer höheren Anteil an qualifizierter ärztlicher Versorgung. Chronische Erkrankungen und Multimorbidität erfordern einen höheren ärztlichen Versorgungsbedarf sowie meist auch mehr Hausbesuche. So hat sich in den letzen 25 Jahren die Anzahl der jährlichen Arztbesuche  von 5 auf knapp 10 Arztbesuche jährlich fast verdoppelt.

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Was für die Bevölkerung gilt, betrifft ebenso die Ärzte. Immer mehr ältere Ärzte stehen immer weniger jungen Nachwuchsmedizinern gegenüber. Ein hoher Prozentsatz von älteren Ärzten, vor allem Hausärzte auf dem Land, geht in den nächsten Jahren in den Ruhestand – ohne Nachfolger zu finden. So lag das Durchschnittsalter von Hausärzten im Jahr 2016 bei 55 Jahren.

 Medizinische Versorgung im Wandel am Beispiel der KV Nordrhein

Beispiel Nordrhein:

Am Beispiel der KV-Region Nordrhein lässt sich anschaulich zeigen, welche Folgen diese Entwicklung für die Zukunft haben wird:

  • Bis 2030 gehen hier 80 Prozent der Hausärzte in den Ruhestand.
  • Jährlich lassen sich zwar 100 Nachwuchsmediziner zu Allgemeinmedizinern ausbilden, notwendig wären aber mindestens 200, um das jetzige Versorgungsniveau zu halten.
  • Gleichzeitig steigt der Versorgungsbedarf, denn immer älter werdende Menschen brauchen immer mehr Versorgung. Ein Faktor, der den Ärztemangel zusätzlich verstärkt.

Ärztliche Über- und Unterversorgung: Alles nur eine Frage des Standpunktes?

2016 gab es in Deutschland 378.600 Ärzte. Ein Blick auf die Vorjahre zeigt, dass die Anzahl der Ärzte langsam aber stetig gewachsen ist. Sie hat sich seit 1980 sogar nahezu verdoppelt. So gesehen ist die Arztdichte immer besser geworden. Bei der tatsächlichen Versorgungssituation hat sich hingegen ein immer stärkeres Gefälle zwischen Stadt und Land entwickelt. So sind Ballungszentren wie Hamburg, Bremen und Berlin mit 141, 169 bzw. 161 Einwohnern je Arzt überversorgt. Ländlich geprägte Bundesländer wie Brandenburg oder Sachsen-Anhalt haben mit 259 bzw. 249 Einwohnern je Arzt eine deutliche Unterversorgung (Stand 31.12.2015).

Über und Unterversorgung in starkem regionalen Gefälle

Folgt man der Studie Ärzteatlas 2016 weiter, gibt es in vielen Facharztbereichen sogar eine Überversorgung und dies gilt nicht nur für Ballungszentren. Rein rechnerisch kommen auf 1.000 Einwohner immerhin 4,1 Ärzte.  Auch stieg im Vergleich von 2015 zu 2016 zum Vorjahr die vertragsärztliche Versorgung um 1,4%. Im internationalen Vergleich liegt Deutschland damit auf Rang 5 von insgesamt 34 Staaten. Selbst im kritischen Bereich der hausärztlichen Versorgung ergibt sich ein Gesamtversorgungsgrad von 109,6%, wobei in 44% aller Planungsbereiche eine faktische Überversorgung zu konstatieren ist. Dies bedeutet allerdings nicht, dass es keine Unterversorgung gibt. Ist somit alles die Frage einer fehlgeleiteten Verteilungsplanung und letzlich falsch gesetzter Anreize, die zu einem Ungleichgewicht in der Versorgung zu Gunsten der Ballungsräume gegenüber strukturschwachen Regionen führt?

 

Ballungsgebiete versorgen das Umland

Die KBV verweist in einem Interview mit dem KBV-Vorstandsvorsitzenden Herrn Gassen auf folgende Aspekte hin, die aus ihrer Sicht den Vorwurf einer fehlgeleiteten Überversorgung relativieren bzw. entkräften sollen. So findet durch die Ballungszentren immer eine Mitversorgung des Umlandes statt. Berufstätige, die aus dem Umland kommen, werden genauso mitversorgt wie Bevölkerungsanteile, die gezielt nach Behandlungen in der Stadt nachfragen.

Andererseits gibt es laut einer Studie der Zi (Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland) 2015 allerdings Regionen, die tatsächlich vom Ärztemangel bedroht sind. Dies betrifft vor allem Regionen, die aufgrund eines hohen Abwanderungsanteils und einer ausgeprägten demografischen Alterung auch Schlusslichter bei den öffentlichen Investitionen je Einwohner sind. Hier gegenzusteuern bedarf laut dieser Studie mehr öffentlicher Investitionen in Infrastruktur und ambulante Versorgung.

Strukturelle Veränderungen: Physische Arztanzahl versus tatsächlich verfügbarer Arztstunden

All diese Argumente sagen jedoch nichts über die Zahl der geleisteten Arztstunden und die tatsächliche Verfügbarkeit in der Ärzteversorgung aus. Rein an den Zahlen gemessen gibt es zwar mehr Ärzte als in den Vorjahren, aber auch die Verteilung ihrer Arbeitskraft hat sich stark gewandelt.

Eine neue Generation von Medizinern setzt andere Prioritäten bei der Arbeit. Betrug im Jahr 2009 der Anteil an in Teilzeit tätigen Ärzten noch 5%, so ist er bereits im Jahr 2013 auf 13,6% angestiegen. Tendenz weiter steigend. Laut einer Studie des Forschungsinstituts Prognos sank die tatsächlich geleistete Wochenarbeitszeit in den Praxen im Jahr 2011 von durchschnittlich 42,6 Stunden auf 40,2 Stunden in 2014. Führt man sich diese Entwicklung vor Augen, muss auch der jährliche Zuwachs von Ärzten und Psychotherapeuten in Hinblick auf die verfügbaren Arztstunden neu bewertet werden. So stieg im Jahr 2015 die Anzahl um 1,4 % (2.772). Bereinigt man diesen Zuwachs um die jährliche Steigerung der in Teilzeit tätigen Ärzten und Psychotherapeuten ergibt sich lediglich ein Plus von 0,2 %.
Für die allgemeine Versorgungsstruktur hat dies natürlich Auswirkungen. Besonders in den ländlichen Regionen kann diese Entwicklung eine nachteilige Veränderung in der Versorgungsstruktur bewirken:

Neubewertung Zuwachsraten von Ärzten durch Einbeziehung der Teilzeitentwicklung

  • Junge Ärzte schätzen den Austausch mit anderen Kollegen und sind es gewöhnt, in Teams zu arbeiten: Das ist ein Grund, warum sie sich weniger um eine Position als Landarzt bewerben.
  • Viele jüngere Ärzte favorisieren Teilzeit-Arbeitsmodelle, weil Familie und Freizeit einen höheren Stellenwert haben. Für die Besetzung von Arztstellen hat dies zur Folge, dass aufgrund der tatsächlich geringer verfügbaren Arztstunden mehr Ärzte benötigt werden, um die gleiche Anzahl an Stellen zu besetzen.
  • Die Medizin wird weiblich: seit Jahren liegt der Frauenanteil bei Studienanfängern im Fach Medizin deutlich über 60 Prozent: Teilzeitmodelle, die den Wiedereinstieg ermöglichen, gewinnen gerade für Frauen an Attraktivität. Häufig ist dies einfacher in Gemeinschaftspraxen, Krankenhäusern und MVZ umzusetzen. 

Fortschreitende Digitalisierung im Gesundheitsmarkt

Fortschreitende Digitalisierung

So wird eine neue Generation von jungen Medizinern aktiv Einfluss auf die Arbeitsbedingungen als Arzt nehmen. Auch aufgeklärtere Patienten werden mit einer anderen Erwartungshaltung in die Praxis kommen. All das geschieht vor der Kulisse einer fortschreitenden Digitalisierung des Gesundheitsbereichs.

Neue Generation von Patienten – neue Möglichkeiten durch Digitalisierung

Dr. Google hilft bei der Recherche

Ein Blick auf die Patienten von heute zeigt, dass sich auch hier einiges verändert hat. So tragen zum Beispiel die vielfältigen Möglichkeiten sich online zu informieren dazu bei, dass Patienten schon vorab das Internet zu möglichen Erkrankungen befragen. Das führt mitunter zu häufigeren Arztbesuchen.

Mehr Arzt-Patienten-Kontakte

Die Statistik zeigt: die Anzahl der Arztbesuche hat sich zwischen 1991 und 2014 von 5 auf knapp 10 fast verdoppelt. Dies liegt u.a. natürlich auch an der steigenden Zahl immer älter werdender Patienten.

In der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung kommt es jährlich zu mehr als einer Milliarde Arzt-Patienten-Kontakten. In den Krankenhäusern hat sich die Zahl der Behandlungsfälle in den letzten zehn Jahren um mehr als 2,5 Millionen auf fast 19,8 Millionen erhöht. In der Konsequenz bedeutet das auch: Ärzte müssen immer mehr Patienten-(besuche) bewerkstelligen.

Der zweite Gesundheitsmarkt boomt

Ein weiterer Einflussfaktor auf die medizinische Versorgung ist der sogenannte zweite Gesundheitsmarkt im Consumer-Bereich. Mit Fitness-Trackern & Co. stellt er Modelle zur Verfügung, mit denen Nutzer selbst ihre Vitalwerte erfassen können. Der Vorteil: Die Patienten nehmen ihre Gesundheit stärker in die eigene Hand. Vor allem durch Geräte, die die Fitness unterstützen, können z.B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Gewichtszunahmen vorgebeugt oder entgegengewirkt werden.

Was sind die Konsequenzen für Fachhändler und Medizintechnik Unternehmen?

Wirtschaftlich betrachtet wirken sich all diese Einflussfaktoren langfristig auch auf den medizintechnischen Fachhandel und Medizintechnik Unternehmen aus. Ein wachsender zweiter Gesundheitsmarkt kurbelt den Markt und die Bereitschaft zur Digitalisierung im Bereich Gesundheitsprävention und Diagnostik an. Auf diesem Wege werden zukünftige Entwicklungen innerhalb der ärztlichen Versorgungskonzepte im Bereich einer qualifizierteren Diagnostik und Telemedizin mitbestimmt.

Inwieweit sich diese Entwicklungen positiv auf den medizintechnischen Fachhandel und Medizintechnik Unternehmen aus dem ersten Gesundheitsmarkt auswirken oder eher disruptive Veränderungen zur Folge haben werden, bleibt abzuwarten.
Aber eines steht jetzt schon fest: Wenn niedergelassene Ärzte keinen Nachfolger mehr finden, heißt das in der Konsequenz auch, dass Fachhändler diese Arztpraxen als Kunden verlieren. Ebenso wird das Auftragsvolumen abnehmen, wenn sich die Arztstunden weiter durch Teilzeitmodelle und Work-Life-Balance Aspekte reduzieren.

Weniger niedergelassene Arztpraxen = weniger Kunden

Werden die sogenannten Vertragsarztsitze z.B. von Medizinischen Versorgungszentren aufgekauft oder dort eingegliedert, sieht es nicht besser aus. Denn MVZ und Krankenhäuser haben meist eine andere Versorgungsstruktur. Der Einkauf erfolgt also über andere Kanäle.

Dennoch wird der Bedarf an medizinischen Produkten wohl kaum abnehmen. Denn die stärkere Versorgung von älteren Menschen lässt vermuten, dass der Bedarf an Medizinprodukten sogar steigen wird. Aber der Einkauf wird sich verlagern.

Healthcare Marketing ist gefragt

Healthcare Marketing ist gefragt

Um medizinische Praxen weiterhin als Kunden zu halten, muss die Versorgung daher so leicht wie möglich gestaltet werden. Eine stärkere Personalisierung der Angebote und Anpassung an den spezifischen Bedarf der Praxen trägt hier zur Attraktivität bei. Gezielte Marketing Strategien im Gesundheitswesen sind notwendig, um Kunden passende und flexible Angebote zu unterbreiten.

Passgenaue Marketing-Strategien

Angesichts eines hohen bürokratischen Arbeitsaufwandes in Arztpraxen ist bei der Beschaffung von Medizinprodukten jede Erleichterung willkommen. Auch bei der Beratung geht es deshalb immer stärker weg von der reinen Produktberatung hin zu einer kompetenten individuellen Praxisanalyse und entsprechenden Lösungskonzepten. Gerade im Hinblick auf eine heterogene Gruppe von Ärzten – jüngere und ältere Generation – gilt es, flexibel reagieren zu können, sei es mit besonderen Praxis-Versorgungskonzepten und Services, E-Procurement-Lösungen oder mit klassischen Bestellmethoden.

Die Zukunft der medizinischen Versorgung

Die medizinische Versorgung ist vielschichtig und von vielen Faktoren abhängig. Der demografische Wandel und die zunehmende Digitalisierung werden in naher Zukunft immer stärker spürbar werden. Ärzte und Patienten ändern sich, der Umgang mit Gesundheit und Krankheit verändert sich und damit auch der erste und zweite Gesundheitsmarkt.

Um als Medizintechnik Unternehmen auf diese Veränderungen eingestellt zu sein, ist eine genaue Kenntnis der ärztlichen Versorgungsstruktur und die qualifizierte Kundenansprache auf den unterschiedlichsten Kanälen für Ihr Marketing im Gesundheitswesen essentiell.

Quellen: 

http://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/Statistik2015/Stat15AbbTab.pdf
http://www.bundesaerztekammer.de/ueber-uns/aerztestatistik/aerztestatistik-2015/
http://gesundheitsdaten.kbv.de/cms/html/16397.php
http://www.kbv.de/html/themen_1076.php
http://www.versorgungsreport-nordrhein.de/uverz/fileadmin/pdf/Fact_sheet.pdf
http://www.bundesaerztekammer.de/ueber-uns/aerztestatistik/aerztestatistik-2016/
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/158869/umfrage/anzahl-der-aerzte-in-deutschland-seit-1990/
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/77182/umfrage/deutschland-jaehrliche-arztbesuche-pro-kopf-seit-1991/
http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/gibt-es-einen-aerztemangel-in-deutschland-13768602.html
https://www.welt.de/politik/deutschland/article156800436/Land-sucht-Arzt-dramatische-Unterversorgung-droht.html
ttps://www.wido.de/aerzteatlas2016.html

Thema: Healthcare Marketing

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